September 18, 2012
"Für die entsprechende Erziehung und Befähigung des Volkes zu einer sachgerechten Urteilsbildung kommt den Problemen eine besondere Bedeutung zu, die die Masse der Wähler in ihrer sozialen Eigenschaft als materiell weniger gut situierte Arbeitnehmer selber mit den herrschenden Verhältnissen und den Unternehmungen ihrer erfolgstüchtigen nationalen Standortverwaltungen hat. Da entscheidet sich nämlich, ob die Betroffenen sich tatsächlich bereit finden, ihre politische Freiheit im Sinne des demokratischen Herrschaftssystems zu gebrauchen, das sie ihnen gewährt. Schließlich müssen sie ihre materiellen Drangsale, mit denen sie alltäglich fertig werden müssen, daneben politisch auffassen, d.h. als Problem betrachten, die der Standort mit ihnen hat, als Drangsale, die sie und ihresgleichen den Regierenden bereiten; und sie müssen beide Seiten dieser paradoxen Gleichung so bedingungslos in Eins setzen, dass sie, wann immer sie sich eine Verbesserung ihrer eigenen Lage wünschen, diesen Wunsch in die Forderung nach erfolgreicherer Führung, nach größerer Effektivität der über sie ausgeübten politischen Problemsicht im Arbeitnehmervolk hat – Ehre, wem Ehre gebührt – die Sozialdemokratie Entscheidendes geleistet. Sie ist als Vorkämpfer des Standpunktes angetreten, dass eine bruchlose Gleichung zwischen den dauernd unterbutterten materiellen Bedürfnissen, auf die die Staatsmacht ihre Lohnarbeiter festnagelt, und die Belangen der Staatsmacht, die ihre Löhnarbeiter auf lauter Beschränkungen festnagelt, doch herzukriegen sein müsste. Für den praktisch doch nicht aus der Welt zu schaffenden Gegensatz hat sie da letztlich bloß um den nie abzuschaffenden allgemeinmenschlichen „Widerspruch“ zwischen der guten politischen Absicht und ihrer allemal defizitären Verwirklichung, zwischen Realität, der sich zu beugen die Weisheit des Alters wäre, und dergleichen mehr. Sich selbst hat die Sozialdemokratie wahlkämpferisch als Garanten dafür präsentiert, dass unter den Bedingungen, die „nun mal“ – „leider!“ – herrschen, gute Herrschaft das Einzige ist, was sich für die geschädigten Interessen der Beherrschten tun lässt; das wäre aber auch das Beste, was den Betroffenen passieren kann, auch wenn – nochmals „leider!“ – nichts ungeschehen noch wirklich wieder gut zu machen ist. Die sozialdemokratische Partei- und Wähler-„Basis“ wird von ihrer Führung auf eine Weise abwechselnd mit Erwartungen gefüttert und enttäuscht, ohne dass die Täuschung über den heimatlichen Kapitalstandort und dessen auch von Sozialdemokraten verfochtene Staatsräson jemals eine Ende fände. Stattdessen sorgen über Jahrzehnte eingeschliffene Sprachregelungen dafür, dass alle Enttäuschungen politikgerecht verarbeitet werden. Ein arbeiterparteilich gebundener oder auch nur zur sozialdemokratischen Stammwählerschaft zählender Arbeitnehmer ist geübt darin, in seinen politischen Betrachtungen Mittel und Zwecke, Bedingung und Bedingtes zweckmäßig zu verwechseln. So wird aus staatlich erwünschter Lohnzurückhaltung, wenn nur ein „Genosse“ regiert, die notwendige, wenn nicht sogar hinreichende Bedingung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und aus einer Politik, die uneingeschränkt die Interessen „der Wirtschaft“ bedient, ein Mittel für künftige Lohnerhöhungen, weil ohne Wachstum bekanntlich gar nichts gezahlt werden kann. „Eingriffe“ in den sozialstaatlich regulierten Lebensstandard der Massen werden von unabweisbaren Sachzwängen herbeiregiert oder von der ausländischen Konkurrenz auf die Tagesordnung gesetzt und von regierenden Sozialdemokraten nur vorgenommen, um Schlimmeres abzuwehren. Immer will die Partei eigentlich etwas anderes als das, worüber sie sich als loyale Opposition mit der Regierung einig wird oder was sie als verantwortliche Regierung wirklich betreibt und durchsetzt. Unmutsäußerungen aus der linken Ecke werden als Beiträge zum arbeiterfreundlichen Ethos der Politik und Bekräftigung der alten Parteiideale eingeordnet, unter Umständen sogar geschätzt und nur, wenn sie ganz anders gemeint sind und sich ihre Degradierung zum schmückenden Beiwerk nicht gefallen lassen, mit innerparteilichen Disziplin und notfalls auch geheimdienstlich und mir gesetzlichen Mitteln unterdrückt. So jedenfalls hat die herkömmliche Sozialdemokratie agiert und damit nicht bloß Maßstäbe für ihre bürgerliche Konkurrenz gesetzt, sondern eifrig und mit Erfolg nachgeahmtes Vorbild abgegeben. Längst pflegen alle Parteien für ihre Wahlwerbung unter Arbeitsnehmern das bild vom Politiker als Anwalt aller Sorgen und Nöte der Schlechtverdienenden, der erstens genau weiß, „wo der Schuh drückt“, zweitens aber als ehrliche Haut den Betroffenen „reinen Wein einschenken“ muss aber die Bedingungen, die eine Abhilfe „sachgesetzlich“ entgegenstehen; denn mit sowieso unhaltbaren „Wahlversprechen“ wäre doch auch niemandem gedient. Als vertrauenswürdige demokratische Führungspersönlichkeit beweist man sich mit einer Kombination aus wohlmeinender, einfühlsamer Volksnähe und unerbittlicher Fachkompetenz, die „soziale Wohltaten“ ausschließt. Politiker jeder Couleur bringen es daher jederzeit fertig, die materiellen Drangsale der regierten Menschheit zu zitieren, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren, Abhilfe zu versprechen und ohne Punkt und Komma zu den Lösungen überwechseln, die sie für die sozialen Ordnungsprobleme der Staatsgewalt mit ihren langlebigen Rentnern, langfristig Arbeitslosen, verschuldeten Arbeitnehmerhaushalten, gewerkschaftlichen Lohnforderungen, verarmte Familien usw. auf Lager haben. Die zeugen dann von ihrer zupackenden Entschlossenheit, die Klassengesellschaft mit all ihren systemeigenen Funktionsbedingungen, den Kapitalstandort mit seinen ökonomischen Bedürfnissen und mittendrin das in allen ehren drangsalierte Fußvolk mitsamt seinen Sorgen erfolgreicher zu beherrschen. Für eine solche einfühlsame Ansprache ist der moderne Arbeitsnehmer also längst nicht mehr aus seine sozialdemokratischen „Genossen“ angewiesen: Als Wähler hat er die Qual der Wahl zwischen lauter Klonen der Verschmelzung eines unbedingten demokratischen Herrschaftswillens mit berechnender Arbeiterfreundlichkeit."

— Peter Decker und Konrad Hecker In “Das Proletariat” (2002) - S.185ff 

  1. grauerblog-blog posted this