II - Ich höre dich, selbst wenn es laut ist.
für @blitzgeschichten
Antonia war sich sicher, dass die meisten Menschen wahre Stille nicht richtig schätzen konnten. Es hatte etwas heiliges, etwas völlig losgelöstes von dieser Welt, wenn ein Raum tatsächlich still war. Nein, die meisten Menschen konnten es nicht richtig schätzen, und auch nicht richtig verstehen. Verstanden nicht, dass Stille nicht automatisch die Abwesenheit von Geräuschen bedeutete. Zumindest nicht für sie.
Stille war ein Zustand in sich selbst im Einklang mit dem Raum um einen herum.
Was für ein schönes Wort.
Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie sich in dem Bürostuhl weiter nach hinten lehnte, die Füße auf dem Schreibtisch vor ihr, die Augen geschlossen, mit lauschenden Ohren.
Ein Raum ohne jedes Geräusch war nicht wirklich still, solange die Person darin nicht bereit war der Stille zuzuhören. Und gleichzeitig war es für sie vollkommen still, auch wenn sie das Lachen durch die Wände hören konnte. Die Musik, und die Schritte auf den Gängen außerhalb des Büros.
Die Feier nahm gerade an Fahrt auf, aber bei ihr war es still. Nur das Ticken der großen Standuhr drang wirklich zu ihr durch, gab ihr einen Rhythmus zum Atmen – die einzige Bewegung die sie in ihrem Körper wahrnehmen konnte.
Anstelle sich unter die eintrudelnden Gäste zu mischen, wartete Antonia lieber entspannt und hörte dem Nichts zu.
Vielleicht war das ein bisschen gelogen.
Sie war zwar entspannt, aber tief in ihr lag ebenso eine Vorfreude verborgen, die schon bald erfüllt wurde.
Es waren leise Schritte, die in der Heiterkeit der Feier hervorstachen. Spitze Absätze, wahrscheinlich mit Metall verstärkt, und trotzdem war jeder Schritt so gekonnt gesetzt, dass es fast unbemerkbar blieb. Unbemerkt für alle, außer für Antonia. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde zu einem breiten Grinsen als sie das leise Klicken des Schlosses hörte.
Sie öffnete ihre Augen zusammen mit der Bürotür und schaute direkt in die erzürnten Augen ihres Gegenübers. Melissa schloss die Tür und mit einem Schlag verschwand die Stille um Antonia, explodierte eher zu einem grandiosen Auftakt einer Ouvertüre.
„Mit dir hätte ich rechnen sollen“, grummelte Melissa und schaute an Antonia herunter, die ihre Füße immer noch lässig auf dem Schreibtisch zu liegen hatte. Ihr Blick blieb an ihrem Dekolleté hängen, wo der tiefe Ausschnitt das mit Diamanten besetzte Collier klar in Szene setzte.
„Ich muss schon sagen, ich bin ein bisschen enttäuscht, dass dich das so sehr überrascht.“ Antonia lachte und nahm einen Fuß nach dem anderen von dem Tisch, lehnte sich stattdessen zu Melissa nach vorn, sodass das Schmuckstück in der Luft baumelte. „Ich hingegen habe darauf gebaut, dass du hier auftauchst.“
Endlich spiegelte sich ihr Grinsen auch auf Melissas Gesicht wieder. „Ich bin heute nicht zum Spaß hier. Da muss ich dich noch einmal enttäuschen.“ Sie zeigte auf das Collier und kam näher. „Vielleicht hättest du gehen sollen, solange du die Möglichkeit dazu hattest.“
„Soll das eine Drohung sein?“ Antonia stand auf und lehnte sich über den Schreibtisch, sodass sie nun nur noch eine Armlänge von einander entfernt waren. Wie erwartet, schloss Melissa die Lücke mit einem großen Schritt, ließ ihre Fingerspitzen über die Diamanten wandern.
„Nach dir wird gefahndet, Antonia. Es täte dir ganz gut das als Drohung zu verstehen.“
Antonia lachte laut und lehnte sich nun so weit zu Melissa, dass ihr Mund fast ihre Ohren berührte. „Du bist noch immer zu laut.“
Sie sah wie Melissa ihre Zähne zusammen biss als sie zum Fenster schlich und es öffnete. Antonia wagte einen Blick nach unten. Es war der vierte Stock, doch das machte ihr nichts aus. Mit einem letzten Lächeln drehte sie sich noch einmal zu Melissa um.
„So leise raus wie leise rein. War schön dich mal wieder zu sehen.“ Dann schwang sie sich aus dem Fenster und verschwand in der Ferne.
Das Dunkel der Nacht schlang sich um ihre Gestalt.
Die Stille verschlang jedes ihrer Geräusche.