V Nachts
für @blitzgeschichten
Marlena lehnt sich mit einem Seufzen gegen das Geländer und schaut dann mit genervten Augen zu mir.
„Es ist schon wieder Nacht“, sagt sie und in ihrem Ton schwingt der Vorwurf mit.
„Nächte sind schön“, ist alles was ich darauf antworten kann. Die Nacht trägt die Sterne in sich, den Mond, die Stille. Das Gefühl, dass nichts so wirklich wichtig ist, das alles ein bisschen vergessen lässt.
„Ich will wieder die Sonne sehen. Du hast es mir versprochen.“
„Versprechen kann sich jeder mal.“
Sie schnauft nur neben mir und starrt in die Ferne. Von dem Balkon aus lässt sich fast die ganze Gegend sehen. Tagsüber, wenn die Sonne das Flussbett schimmern lässt und die grünen Wälder voller Leben die goldene Kraft auftanken. Zumindest hat es das letzte mal so ausgesehen, als es Tag war.
„Und morgen?“, fragt sie jetzt und klingt ein bisschen niedergeschlagen. „Oder wenigstens irgendetwas anderes als sternklarer Himmel.“
„Du hast immer gesagt, dass dir die Sterne gefallen“, flüstere ich. Als könnten meine Worte plötzlich etwas heraufbeschwören, wenn sie zu laut sind. Als ob sie dann eine neue Bedeutung bekämen.
„Das war mal. Jetzt kotzen sie mich an“, antwortet sie, und ich brauche nicht hinzusehen um zu wissen, dass sie weint.
„Wie wäre es mit Regen?“, schlage ich vor und die Wolken brechen über uns zusammen, lassen das Wasser auf uns fallen.
„Jetzt ist es noch dunkler“, beschwert sie sich und sie hat Recht. Jegliches Licht vom Nachthimmel wird von dem Unwetter verschluckt, sodass wir uns nun in absoluter Finsternis befinden.
„Dir passt es nicht, egal was ich mache.“
„Du weißt ganz genau, was ich will.“
In der Dunkelheit finden sich unsere Augen, ihre voller Wut. Einen Blick, den ich nur flüchtig von ihr kenne. Es wundert mich fast, dass ich mich noch so genau daran erinnern kann. So sehr, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde glaube, sie wäre echt.
„Es spielt keine Rolle, was du willst.“ Das meine ich nicht herablassend. Es ist eher Resignation, Hoffnungslosigkeit, Müdigkeit.
„Ich verstehe nicht, warum ich dann hier bin.“
Nichts, was ich darauf sagen könnte. Stattdessen schaue ich zurück in die Ferne und lausche dem Regen. Ein gute Idee, der Regen. Ein bisschen Abwechslung ist in der Tat ganz nett.
„Wolltest du nicht weglaufen?“, fragt sie dann etwas zögerlich.
„Du versteckst dich hier. Das hat nichts mit Laufen zu tun. Im Gegenteil, du steckst fest.“
„Erfüllt aber den gleichen Zweck.“
Marlena macht ein abfälliges Geräusch, das Antwort genug ist und setzt sich auf den kalten Boden. Sie macht das immer, wenn es ihr zu viel wird, und auf einmal ist es das für mich ebenso. Die Kälte, die feuchte Luft, das Rauschen des Unwetters. Stille. Der sternklare Himmel ist zurück. Der Mond ist dieses Mal voller als zuvor, ein bisschen heller.
„Ich warte irgendwo auf dich. Du hast versprochen, dass du mir folgst“, erinnert Marlena in die Ruhe der Nacht.
„Du wirst mir nicht verzeihen. Es müssen Monate gewesen sein.“
„Natürlich würde ich das verzeihen. Selbst, wenn es Jahre wären.“
„Wieso? Weil du dann keinen Grund mehr hast dich in diesem Nichts zu verstecken? Weil du dann das Versprechen halten müsstest, das du mir gegeben hast?“
Ihre Hände finden meine, reichen ein bisschen zu mir hoch bis ich nachgebe und mich neben sie hocke. Sie wandern, finden mein Gesicht, liegen sanft auf meiner Wange.
„Was hält dich dann zurück?“
Tränen treten ungebeten in meine Augen, heiß auf meiner Haut gegen die kalte Luft der Nacht.
„Ich bin so müde. Ich schaffe das einfach nicht.“
„Das hier ist keine echte Nacht. Keine in der du schlafen kannst. Solange du nicht aufwachst, kannst du keine Ruhe finden.“
Nichts, das ich nicht schon wüsste. Natürlich nicht. Es ist nicht so, als könnte sie irgendetwas sagen, dass ich nicht auch selber wüsste.
Vorsichtig schaut sie mir in die Augen – nun wieder so sanft, wie ich sie am meisten kannte – lehnt sich nach vorn und legt einen Kuss auf meine Stirn. Wischt mit ihren Fingern die Tränen von meiner Haut.
„Lauf für mich. Bitte. Wach auf und lauf. Komm zu mir. Ich warte, versprochen.“
Ich nicke, würde ich sprechen, würde nur meine Stimmer versagen. Der Mond wird heller, bis er golden ist. Gleißend. Bringt Farbe und den Lärm des Tages.
Marlenas Berührung ist nur noch wie ein Phantom auf meiner Haut. Es bleibt nichts mehr übrig, außer aufzuwachen und zu gehen. So lange, bis sie wieder bei mir ist.