Vorstadt-Begegnung bei Nacht
“Willst du eine Bowlingkugel kaufen?”, hörte ich eine Stimme hinter mir.
Ich saß im leichten Schneetreiben des Winterabends fröstelnd auf der Bank des Bahnsteigs und wartete mit hochgeklapptem Mantelkragen auf meinen Zug.
Die Bahn hatte - mal wieder - Verspätung.
Ich blickte mich, zugegebenermaßen etwas neugierig, um. Zwar hatte ich kein wirkliches Interesse an Bowlingkugeln, aber solch ein Angebot bekommt man schließlich nicht alle Tage.
Ein paar Jugendliche standen dicht an dicht gedrängt hinter mir an der Bahnsteigkante. Der augenscheinliche Anführer der Gruppe - mit der Bowlingkugel unter einem Arm und einer Flasche Bier in der Hand des anderen - winkte einem blonden jungen Mann zu, der sich etwas abseits eine Zigarette anzündete.
Offenbar galt ihm das Angebot und nicht mir.
Beim Bier des Anführers handelte es sich um “Pils”, wie mir mein geschultes Auge sofort verriet. Ich bin kein großer Biertrinker aber die Worte “nach Pilsener Brauart” auf dem Label der Flasche gaben mir den entscheidenden Hinweis.
“Eine Bowlingkugel?”, fragte der Blonde. Deutliches Interesse schwang in seiner Stimme mit. Er trat näher.
“Ja. Is ne spitzen Kugel. No cap. Willste?”
“Wieviel?”, fragte der Blonde und fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare.
“30 Euro, Digga.”, antwortete der Pils-Mann.
“Oh, wow. Ja, du... hmm... an sich... Hmmm...”
“Es ist eine 1-A Bowlingkugel mit astreinen Löchern für Männerfinger.”
“30 Euro sagst du?”, fragte der Blonde und kramte hastig nach seiner Geldbörse.
Nach einigen Sekunden blickte er enttäuscht auf.
“Okay... also ich muss heute noch unbedingt Gras kaufen, das verstehst du, oder? Für beides reichen die Funds nicht.”
“Alles gut, Digga! Ich fühle das. Kein Stress”, antwortete der Pils-Mann und nickte dem Blonden großmütig zu.
“Du bist ein Ehrenmann”, sagte der Blonde, “Und ich muss sagen, dass du jetzt sowas wie mein Held bist. Wirklich. Ich meine... du stehst hier, mit ner Bowlingkugel. Das ist echt... Das ist wild, Mann! Sag mal... wär es okay für dich, wenn ich ein Foto mit dir mache? Für Insta?”
“Foto? Logo, Digga. Komm her”, erwiderte der Pils-Mann und hielt die Flasche seinen Begleitern entgegen, “Haltet mal mein Bierchen, Leute. Foto-Zeit!”
Nach einigem Hin und Her welches Handy nun für das Foto benutzt werden könne, solle oder dürfe - offenbar hatte der Blonde mehr als ein Telefon - war es dann soweit. Ein sattes digitales Klicken bestätigte das Ergebnis - vermutlich nun zu Begutachten auf einem Instagram-Feed irgendwo im World Wide Web.
Ob die Bowlingkugel werbewirksam präsentiert ist, weiß ich nicht. Der Account ist mir unbekannt.
Die Bahn fuhr ein, was auch der Pils-Mann bemerkte. Er schnappte sich die Flasche aus der Hand eines seiner Begleiter, nahm einen tiefen Schluck und verstaute sie sorgfältig auf einem der Fahrkartenautomaten.
“Leute, der Sozialschlauch fährt ein. Wir müssen los!”, bestimmte er und marschierte voran, seine Männerfinger fest in den astreinen Löchern der 1-A Bowlingkugel.